Vortrag (24.06.2019, Heimatstube Wiblingwerde):
„Nachrodt und Zuccalmaglio – wie ehrt(e) unsere Gemeinde ihren berühmtesten Sohn?“
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie alle wissen offenbar etwas mit dem Namen „Zuccalmaglio“ anzufangen – sonst wären Sie dem Einladungstitel nicht gefolgt. Ich danke Ihnen herzlich für Ihr Kommen. Was erwartet uns?
Der folgende Vortrag möchte zunächst Zuccalmaglios Lebenslauf in aller Kürze vorstellen. Danach soll sein Bekanntheitsgrad erfragt werden – dies auch im Vergleich mit Waldbröl, seinem Geburtsort –, um dann in einem dritten Schritt zu sichten, welche Rezeption er und sein Werk in Nachrodt-Wiblingwerde und Umgebung in den vergangenen Jahrzehnten erfahren haben. Ein paar Gedanken zu einer möglichen Fortsetzung und Intensivierung dieser Rezeptions- und Erinnerungsbemühungen sollen den Vortrag abrunden.
Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio – sein Ruf-Vorname war Wilhelm - entstammte väterlicherseits einer alten italienischen Adelsfamilie, die um 1700 ins Rheinland gekommen war – daher auch der fürs Rheinland, Bergische Land und Nachrodt eher ungewöhnliche Name, der in der politischen Lokaldiskussion sogar die Empfehlung hervorrief, einen Italienischkurs zu belegen. Sein Großvater diente als bergischer Offizier im Amt Windeck, sein Vater war zunächst Rechtsanwalt in Waldbröl, wo Anton Wilhelm am 12. April 1803 geboren wurde. Seine Mutter hieß Klara, deren Vater als bergischer Richter auf Schloss Burg sein Amt ausübte. Anton Wilhelm hatte zudem einen drei Jahre jüngeren Bruder, Vincenz von Zuccalmaglio, der unter dem Pseudonym „Montanus“ vielerlei Schriften veröffentlichte; dieser ist besonders als Politiker und Propagandist, Staatsrechtler und als kämpferischer Publizist hervorgetreten. In Verbindung mit dem Grevenbroicher Maschinenfabrikanten Diedrich Uhlhorn wurde er zu einem der Pioniere des Obstanbaus am Niederrhein. Die Familie umfasste also einige mehr oder weniger prominente Vertreter in Staat, Verwaltung und kultureller Öffentlichkeit, dies alles mit einer bemerkenswerten Themenbreite.
Schon wenige Monate nach seiner Geburt zieht die Familie zunächst nach Opladen, dann nach Schlehbusch um. Nach seiner Schulzeit in Wiesdorf (heute ein Stadtteil von Leverkusen), Mülheim und Köln und einem vorzeitig beendeten Militärdienst studiert er mit seinem Bruder Vincent Rechts- und Staatswissenschaften in Heidelberg, wo er Mitglied des Singkreises um Prof. Thibaut wird. Auf dessen Anregung beginnt er mit der Sammlung von Volksliedern. Die geplante Universitätskarriere muss er aus Geldmangel nach der Trennung seiner Eltern leider abbrechen. Nach finanziell wenig ergiebiger journalistischer und publizistischer Arbeit vermittelt ihm die Familie eine Stellung als Hauslehrer beim russischen Fürsten Gortschakoff in Warschau.
Dies wird sein weiteres Leben bestimmen: Zuccalmaglio hatte schon als Schüler ein ortsungebundenes Leben, als Erwachsener wird es noch unsteter. Er ist „überall und nirgends“, wie verschiedene Artikel über seine Vita anmerken. Neben seiner Hauslehrertätigkeit bei verschiedenen Familien im Rheinland, Westfalen, Frankfurt und Freiburg lebt er von einer umfangreichen journalistischen Tätigkeit. Er schreibt Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften (und es ist eine mühsame Herausforderung, die zuweilen ohne Namen veröffentlichten Beiträge zu identifizieren), er korrespondiert mit den Komponisten Robert Schumann und Felix Mendelssohn-Bartholdy, schreibt Lust- und Trauerspiele, Texte für Singspiele, neue Texte für Mozartopern, sammelt Volksbräuche und Sagen, schreibt ein Wörterbuch für mittelalterliche Baukunst, versucht sich in Lyrik. Vieles wurde nicht veröffentlicht oder ist heute nur noch schwer greifbar. Er schreibt unter mehreren Pseudonymen, meist unter Wilhelm von Waldbrühl oder Dorfküster Wedel. Zuccalmaglio reiht sich damit ein in die Liste von Universalgelehrten, der dazu noch rund 8 Sprachen beherrschte – ein Polyhistor (um einmal das alte Wort zu gebrauchen) auf christlichem Fundament also, wie es etwa der Philosoph Leibniz mit ganz anderer Ausprägung auch war.
Anton Wilhelm hat nie geheiratet und – wie dargestellt – keinen dauerhaften Wohnsitz. Er wohnt zwischen seinen Hauslehrertätigkeiten bei Freunden oder Verwandten; der Zuccalmaglio-Forscher Dr. Wilhelm Sprang glaubt, dass dies oft in Form der Selbsteinladung geschah. Dabei ist er beständig unterwegs; Warschau, Moskau, böhmische Bäder, Paris, Italien und Schweiz. Er benutzt die Kutsche, später die Eisenbahn und vor allem seine Füße. Seine letzte Station als Hauslehrer tritt er schließlich auf Haus Nachrodt an, wo er am 23. März 1869 überraschend stirbt. Er wird auf dem katholischen Bergfriedhof von Altena beerdigt. Der Friedhof musste 1981 einem Krankenhausneubau weichen und der Grabstein wird am 18. Juli 1981 – ohne große Beteiligung der Gemeinde Nachrodt-Wiblingwerde – auf den oberen Burghof der Burg Altena verlegt, wo man ihn heute noch an exponierter Stelle besuchen kann.
***
Im August 2018 kam ich erstmalig in Kontakt mit Frau Susanne Schneider-Jacobs aus Waldbröl. Der dortige Heimat- und Verschönerungsverein plante nämlich, Zuccalmaglio zu seinem 150. Todestag – am 23.03.2019 – zu ehren. Im Zuge einiger Planungen und Recherchen war ich positiv erstaunt darüber, wie viel Aufmerksamkeit man in Waldbröl dem Anlassgeber der Reise widmet: Offenbar hat, wie ich lernte, der dortige Kulturverein eine eigene Zuccalmaglio-Beauftragte mit gleich mehreren kompetenten Mitstreitern. Außerdem gibt es in Walbröl eine Zuccalmagliostraße, einen zentralen Zuccalmaglioplatz in der Altstadt sowie ein Denkmal, das 1903 vom Waldbröler Verkehrs- und Verschönerungsverein anlässlich des 100. Geburtstagsjubiläum eingeweiht worden war. Selbst an eine Linde mit Sitzgelegenheit haben die Waldbröler Bürger gedacht, um seinem wohl bekanntesten musikalischen Werk, „Kein schöner Land“, einen konkreten botanischen Ausdruck und Treffpunkt zu geben. Außerdem beschäftigt sich eine erstaunliche Zahl von Forschern und Heimatkundlern im Waldbröler Umkreis mit Zuccalmaglio. Respekt!
Der wikipedia-Artikel zu Waldbröl zählt nun über zwei Dutzend mehr oder weniger prominente Personen auf, die aus dem Ort kommen oder zumindest dort gewirkt haben. Darunter sind Namen wie Alice Schwarzer, der englische Arbeiter-Schriftsteller Lawrence oder mehrere hochkarätige Fußballspieler (z. B. Jan Schlaudraff, der dem ein oder anderen vielleicht noch als Spieler bei Gladbach oder Bayern-München in Erinnerung ist) – und man fragt sich aus der Ferne, ob diese Menschen dort in Waldbröl allesamt so hingebungsvoll gepflegt werden wie Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio? Unser Protagonist hat also durchaus VIP-Konkurrenz, und es ist für einen Außenstehen bemerkens- und bewundernswert, wie hingebungsvoll die dortige Kulturszene mit ihrem berühmten Sohn umgeht.
Das hat mich veranlasst, einmal einen – durchaus kritischen – Blick auf Nachrodt-Wiblingwerde zu werfen, gleichsam eine kurze Eigenschau vorzunehmen. Um die Verhältnisse gleich zurechtzurücken: Wir haben offenkundig nicht einmal ansatzweise die Prominenz an das Lenneufer ziehen können wie das schöne Waldbröl; der wikipedia-Artikel erwähnt für Nachrodt-Wiblingwerde gerade einmal vier Personen von Rang und Namen (von denen mir zwei, offen gestanden, nicht einmal irgendetwas sagen). Anton Wilhelm Florentin von Zuccalmaglio, der mit Unterbrechung nach insgesamt etwa achtjährigem Wirken in unserer Gemeinde am 23. März 1869 im Alter von 66 Jahren gestorben ist, müsste sich also nicht einmal gegen große Konkurrenz bei uns durchsetzen. Und doch ist die hiesige Bilanz – so viel sei schon jetzt verraten – deutlich magerer. Wie also sieht es hier mit der Andenkenpflege aus?
Blicken wir zunächst in die Heimatforschungsgeschichte, um uns einen Überblick über den Stand der Dinge zu verschaffen:
- • 1957 publizierte die Gemeinde Nachrodt-Wiblingwerde in einer Festschrift zum 50-jährigen Gemeindejubiläum den Brief seines Bruders, Justizrat Vincenz von Zuccalmaglio, an den Onkel Franz von Zuccalmaglio, in dem er über den Tod seines Bruders berichtet. Der Artikel ist bebildert mit Haus Nachrodt und einem Foto des Grabsteins auf dem alten katholischen Friedhof in Altena, nicht aber weiter kommentiert oder in sonstiger Weise philologisch-historisch aufgearbeitet. Es fehlt sogar – anders als bei den anderen Beiträgen des Sammelbandes – eine Autorenangabe über der schmalen Einleitung. So ist es zwar löblich, dass der berühmteste Sohn der Gemeinde in diesem Buch berücksichtigt wurde (eingezwängt zwischen der Chronik der Katholischen Schule und etwas mageren Anekdoten in heimischer Mundart – variatio delectat!), doch von einer Aufarbeitung, tieferen Beschäftigung oder gar Ehrung kann hier in diesem Beitrag nicht die Rede sein.
- • 1984 veröffentlichte der „Heimatbund Märkischer Kreis“ einen weiteren, thematisch bunten Sammelband zur Ortsgeschichte. In der großen „Zeittafel der Gemeinde Nachrodt-Wiblingwerde“ ab S. 30 findet sich der knappe Eintrag „1860-1866: Zuccalmaglio Hauslehrer in der Familie Löbbecke“. Sein Todesdatum aber taucht nicht eigens als Station auf dem Zeitstrahl auf. Der Beitrag von August Kracht über die Herrensitze (S. 156-162), in dem Haus Nachrodt breiter Raum gewidmet wird, spart Zuccalmaglio bewusst aus, weil Alfred Tryzna ihm ab S. 174 einen dreiseitigen Artikel widmet. Alfred Fritz Tryzna, ein 1995 verstorbener Heimatforscher aus Altena, kombiniert geschickt lokale Detailinformationen sozialer, geographischer, mitunter gar zoologischer oder botanischer Art mit Mitteilungen aus Zuccalmaglios Werken, so dass ein lebendiges Bild seiner Nachrodter Jahre entsteht. So erfahren wir z. B., dass zur Publikationszeit die Ergebnisse seiner Okulierungen an Nachrodter Bäumen sichtbar gewesen seien. Der Nachrodter Heimatkundler und Naturschutz-Vorstreiter Friedrich Petrasch – er ist heute hier bei uns – identifiziert diese Bäume sogar einzeln. Forschung im engeren Sinne war Tryznas Beitrag gleichwohl nicht, eher die gepflegte Anekdotensetzung und gefällig lesbare, bewundernde Gesamteinordnung in den historischen Kontext. Seit 2006 wird Tryznas Nachlass im Altenaer Kreisarchiv aufbewahrt und aufgearbeitet; Zuccalmaglio hat ihn immer wieder interessiert, wie fleißige Handschrift-Notizen, Anforderungen von Rundfunkmanuskripten beim WDR, Sammlungen musikalischer Ankündigungen oder die Ausschnitte aus der Tageszeitung beweisen.
- • Ein maßgebliches heimatkundliches Blatt unserer Gegend ist zweifellos „Der Märker“, dessen Ausgaben wir auch in der hiesigen Bibliothek unseres Kornspeichers archiviert haben. Ich habe einmal durchgeforstet, wie viele Beiträge sich mit Zuccalmaglio oder Wilhelm von Waldbröhl beschäftigen: Was glauben Sie? – Es ist, soweit ich sehe, kein einziger Artikel zwischen 1951 und 2017, der sich des Autors monographisch annehmen würde! Und das, obwohl „der Märker“ seit jeher durchaus stark personenhistorisch orientiert ist und viele Köpfe der frühen bis neuen Neuzeit eingehend, wissenschaftlichen Ansprüchen genügend thematisiert hat. So finden wir beispielsweise etwas zu Caspar Rump, dem Altena Reimchronisten (1616-1699), zu König Theodor von Corsica, zu Familie Neuhoff von Pungelscheid. Alles gewiss wichtige Köpfe, aber dass Zuccalmaglio bislang nur auf Nebengleisen vorkam, nicht aber artikelmonographisch, hat dann doch durchaus überrascht.
- • Ein ähnlicher Befund ergibt sich bei Recherchen in den alten Ausgaben des Altenaer Kreisblatts. Diese seit jeher auch für Nachrodt zuständige Tageszeitung existiert seit 1837 unter dem Namen „Wochenblatt für den Kreis Altena“ und dürfte am besten über die tatsächliche Vor-Ort-Rezeption ihres bekannten Bürgers Auskunft geben. Doch soweit meine Sichtungen im Archiv Altena einen Überblick erlauben, möchte ich feststellen, dass auch hier kaum Aufmerksamkeit auf Zuccalmaglio gelegt worden ist. Freilich war die Lokalberichterstattung im 19. Jahrhundert ganz anders zugeschnitten als heute, Tageszeitungen waren viel schmaler und überörtlich ausgerichtet, eher staatlich-obrigkeitsgläubig ausgerichtet als investigativ, aber exemplarisch sehen wir die Rezeptionsschwäche etwa an Folgendem: Das „Wochenblatt für den Kreis Altena“ widmete Zuccalmagio am 27. März 1869 nur wenige dürre Zeilen anlässlich seines plötzlichen Todes vier Tage vorher: Der knappe Text ist zudem so geschrieben, dass der Redakteur offenbar davon ausging, dass die Leserschaft mit dem Namen „Zuccalmaglio“ nicht allzu viel anfangen konnte, da nur rudimentäre biographische Daten mitgeteilt werden. Von einer lebendigen, wohlmöglich seit Jahren andauernden Bezugnahme ist nichts zu spüren, und man kann die wenigen Zeilen dort nicht einmal einen echten „Nachruf“ nennen. Es heißt dort:
„Nachrodt, 24. März. Gestern starb hier plötzlich am Herzschlage der Literat Herr T. W. von Zuccalmaglio. Unter dem pseudonymen Namen Wilhelm von Waldbrühl dehnte sich die literarische Thätigkeit des Dahingeschiedenen vorzüglich auf historische und Naturwissenschaften aus; seine practische Thätigkeit entfaltete er dagegen in der Pädagogik“ (mit Nennung einiger Stationen).
Lange nach seinem Tod widmete sich das Altenaer Kreisblatt gelegentlich dem berühmten Mitbürger, so etwa 1978 bis 1981 im Kontext der Verlegung von Zuccalmaglios Grabmal, als der alte katholische Friedhof eingeebnet werden sollte. 1993 erschien im Nachgang zum 190. Geburtstag ein großer, bebilderter Beitrag, der im Wesentlichen die Vita unseres Künstlers wiedergab. Alfred Tryzna hatte einmal mehr das heimische Publikum und die heimische Presse mobilisiert.
- • Von 1923 bis 1941 erschien „Das Süderland“ als heimatkundliches Beiblatt des Altenaer Kreisblatts. Dieses Organ ist heute ziemlich in Vergessenheit geraten, bietet aber dem Heimatforscher auch heute noch einen schönen Fundus mit ziemlich bunter Themenpalette. Hier sind zumindest zwei kleine Beiträge zu finden, nämlich der von Paul Spieß aus dem Jahr 1935 über das Zuccalmaglio-Grab in Altena oder von Ferdinand Schmidt, Minierer und Gegenminierer. Eine naturwissenschaftliche Betrachtung von Wilhelm von Waldbröhl aus dem Jahr 1936 über den Regenwurm. Ansonsten hat Zuccalmaglio auch hier, in einer heimatkundlich eigentlich produktiven (wenngleich oft blumig-nationalistischen) Phase der Vorkriegszeit, keinen großen, geschweige denn artikel-monographischen Widerhall gefunden.
- • 1991 erschien dann in Altena schließlich das wohl bekannteste Buch zu unserem Autor, nämlich „Ein lieder-liches Genie“, eine Veröffentlichung des Heimatbundes Märkischer Kreis, gedruckt im nicht fernen Balve. Hier trägt ein Querschnitt der Zuccalmaglio-Forschungscommunity die Ergebnisse ganz verschiedener Bereiche zusammen. Die Bandbreite reicht von Hosterts Darstellung der „Rede anlässlich der Grabmalverlegung 1981“ bis hin zu einem dreiseitigen Beitrag über die Zuccalmaglio-Renette, eine Apfelsorte, die nach dem Bruder Vincenz benannt worden war.
- • Eine Zuccalmaglio-Rezeption der besonderen Art erlebte die Region 2004, als uns der bekannte Opern- und Kammersänger Günter Wewel im Rahmen von Dreharbeiten in Altena besuchte. Wewel, geboren 1934 im nicht fernen Arnsberg, moderierte von 1989 bis 2007 die musikalischen Unterhaltungssendung Kein schöner Land in der ARD mit über 150 Folgen. Insofern passte es, dass gerade er Gast in unserer Region war und uns, nebenbei gesagt, einen Haufen signierter Langspielplatten hinterließ. 2011 schrieb er das Grußwort für eine Veranstaltung der hiesigen Gesangsvereine, die zusammen mit ihm vor der Kamera aufgetreten waren.
Überhaupt bildet die Musik den immer wiederkehrenden Anknüpfungspunkt. Sie ist auch in den umliegenden Städten Altena und Hagen Ausdruck von Rezeption gewesen. Seit den 70er-Jahren nahmen verschiedene Chöre am Zuccalmaglio-Volkslieder-Festival teil und stritten um Medaillen und andere Auszeichnungen, so etwa am 23. Mai 1999, als in Altena über 30 Chöre auftraten. Diese musikalischen Rezeptionen sind gut dokumentiert im Kreisarchiv Altena in einer eigenen „Sängermappe“. 2003 erhielt der MGV Frohsinn Nachrodt 1904 e.V. sogar die Zuccalmaglio-Medaille des Chorverbandes NRW. Der MGV hatte an dem landesweiten „Zuccalmaglio-Volksliederfestival“ in Waldbröl teilgenommen und dabei den Titel „Volksliederleistungschor“ verliehen bekommen.
- • Die aktuellste Rezeption erfolgte in diesem Jahr am 23.03.2019 hier in der Heimat-stube, als Dr. Wilhelm Sprang Einblick gab in seine Forschungen: Zuccalmaglio sei definitiv nicht der Komponist von „Kein schöner Land“. Dies sei an sprachlichen Elementen belegbar, die nicht zu Zuccalmaglios sonstigem Sprachgebrauch passen. Der Liedtext stamme somit weitgehend „aus dem Volke“; Zuccalmaglio hat ihn aus zwei oder gar noch mehr Quellen zusammengetragen.
Dieser Blick in die Forschungs- und Rezeptionsgeschichte ist gewiss nicht vollständig. Er zeigt aber schlaglichtartig, dass die Beschäftigung mit Zuccalmaglio zwar durchaus vielfältig war, aber sicher keinen – noch dazu gar wissenschaftlichen – Schwerpunkt im eigentlich reichen heimatkundlichen Schaffen unserer Gemeinde bildete.
Auch gibt es in der Infrastruktur von Nachrodt offenbar deutlich weniger Reminiszenzen als etwa in Waldbröl. Zum 125. Todestag von Zuccalmaglio im Jahre 1994 setzte unsere Gemeinde dem Literaten und Volksliedsammler ein Denkmal auf dem Wiesengelände am Nachrodter Feld (vor Haus Nachrodt in der Nähe der umstrittenen Brücke). Die Erinnerungstafel trägt die gleichen Worte, wie sie auch auf dem Grabstein durch seinen Bruder Vincenz verewigt worden sind:
„Zum Gedenken
Anton Wilhelm von Zuccalmaglio
als Schriftsteller genannt Wilh. von Waldbrühl
geb. den 12. April 1803 zu Waldbrühl
gest. den 23. März 1869 zu Nachrodt“.
Nur nebenbei sei erwähnt, dass die Namensform „Waldbrühl“ einen längeren, politisch überlagerten Disput hervorgerufen hat, der im Altenaer Kreisblatt der damaligen Jahre seinen Niederschlag fand.
Freilich haben wir in Nachrodt-Wiblingwerde keine nach dem Dichter benannten Straßen, Wege, Plätze oder Bauwerke. Auch eine öffentliche Informationstafel zu ihm (etwa im Rahmen des Wanderwegekonzeptes) fehlt. Und in die verschiedenen Wander- und Ortsbroschüren der vergangenen Jahrzehnte hat er ebenfalls nicht geschafft, mit Ausnahme einer randständigen Erwähnung in einer Wanderungsbeschreibung zwischen Iserlohn und Nachrodt. Friedrich Petrasch integriert ihn aber in seinem naturkundlich-historisch ausgerichteten Führer namens „Im schönsten aller Täler“. Die Homepage unserer Gemeinde erwähnt ihn leider nicht, insbesondere kommt er dort in dem kurzen geschichtlichen Abriss oder unter dem Stichwort „Kultur“ nicht vor. Einen Zuccalmaglio-Beauftragten wie in seiner Geburtsstadt gibt es erst recht nicht.
Als Resümee ist folglich festzuhalten, dass Zuccalmaglio es im Grunde schon im 19. Jahrhundert nicht recht geschafft zu haben scheint, sich im Bewusstsein Nachrodts fest zu verankern. Er war niemand, nach dem man sich umgedreht hat oder der zu Lebzeiten eine aktive Rezeption durch lokale Medien erfahren hätte. Der Zeitungsnachruf belegt dies. Der Sterbeort berühmter Persönlichkeiten blieb also in diesem Fall nicht so stark mit dem Andenken verbunden wie der Geburtsort. Der Output heimatkundlicher Aktivitäten hat dies bis heute in Summe nicht wesentlich geändert, was schade ist.
Ich möchte zum Abschluss ein paar Ideen anformulieren, wie dieser Zustand in Zukunft ein wenig verbessern ließe:
- Ich halte es für ebenso nötig wie aufwändig, die bislang nicht voll ausgewerteten Vor-Ort-Quellen zu durchforsten und zusammenzutragen: Gibt es etwa Mitteilungen in umliegenden Lokalblättern des 19. Jahrhunderts, z. B. in Iserlohn, Hagen oder Lüdenscheid? Sind die Materialien des Kreisarchivs hinreichend ausgewertet? Gibt es noch Akten und Materialien in Haus Nachrodt? Bei Oldtimer-Autos würde man es „Scheunenfund“ nennen. Ich könnte mir vorstellen, dass in all diesen Quellen auch zum literarisch-lyrischen Wirken unseres Autors und Erziehers noch ungehobenes Material zu finden ist.
- Die von Else Yeo herausgegebenen „Erinnerungen“ sind, soweit ich weiß, bislang unkommentiert geblieben. Es dürfte allein wegen des stupenden Umfangs seiner Erzählungen nicht ganz leicht sein, dieses Desiderat zu erfüllen; aber eine verlässliche Sachkommentierung halte ich für die verschiedentlich geäußerte Forderung nach philologisch-wissenschaftlicher Durchdringung des Zuccalmaglio-Werkes für unbedingt geboten. Der Nachrodter Teil beginnt in Band III auf S. 759 und umfasst netto rund ein Dutzend Seiten. Eine solche Teil-Kommentierung zu übernehmen, müsste also mittelfristig realistisch leistbar sein; sie hätte Ortskundliches, Botanik, Zoologie, Medizingeschichtliches, Familienhistorisches etc. im Nachrodter Kontext zu berücksichtigen. Herr Petrasch hat in dieser Hinsicht schon einige naturkundlich-biologische Fingerzeige gegeben (z. B. auf S. 50 seines Büchleins „Im schönsten aller Täler“ zur Silberdistel oder zu einem merkwürdigen Schlangenkampf, den Zuccalmaglio beobachtet haben will), und ich hoffe, dass sich nach der Einrichtung und Eröffnung unserer kleinen Heimatbibliothek im Kornspeicher Kräfte und Gelder finden, ein solches philologisch-naturgeschichtliches Kommentierungs-Projekt mittelfristig anzugehen.
- Im Zusammenhang mit einem solchen Kommentierungsplan möchte ich daran erinnern, dass sich bereits 1984 der Arbeitskreis Zuccalmaglio gebildet worden war, dessen erstes Treffen am Grabstein des Meisters stattfand. Initiator war der Nachrodter Dr. Reinhard Kirste, der im Sammelband über das „lieder-liche Genie“ den Beitrag „Der Dichter als Erzieher“ (ab S. 100) beigetragen hat. Der Sammelband war 1991 sozusagen der greifbarste Output dieses Arbeitskreises, zu dem eben auch die Waldbröler Vertreter gehörten. Vielleicht lohnt es sich, auch in Zukunft wieder einmal alte und neue Zuccalmaglio-Interessierte in einem durchaus ortsübergreifenden Arbeitskreis zusammenzutrommeln. Unsere Türen stehen offen! Die neuerlichen Kontaktaufnahmen von Waldbröler Seite sind ein schöner Ansatz dazu.
- In Nachrodt-Wiblingwerde sind in den vergangenen Jahren mehrere Baugebiete ausgewiesen worden. Im Altenaer Kreisblatt vom 20.11.1976 (!) habe ich die Mitteilung gefunden, „Der Dichter Zuccalmaglio soll zum Zuge kommen, sobald wieder einmal ein Straßenname gesucht wird“. Bislang ist dies nicht geschehen, und der Heimatverein wird die Gemeindeverwaltung daran erinnern, dass es diesen Plan seit über 40 Jahren gibt. Es wäre schon, wenn auch in Nachrodt-Wiblingwerde eine der neuen Straßen nach unserem Autor benannt würde. Leider scheint die mittlerweile über 40 Jahre alte Absicht dazu in Vergessenheit geraten zu sein; 1994 gab es mehrere Anläufe, eine solche Namensgebung per Ratsbeschluss zu initiieren. Der Heimatverein hatte unter Fürsprache von Ernst Schnepper dieses Anliegen unterstützt, das unter anderem Stefan Schnietz – der im Mai seinen 80. Geburtstag feierte – unermüdlich vorbrachte. Die Erfolge waren, wie wir im Rückblick und mit Auswertung der Kreisblattberichte konstatieren müssen, bescheiden. Nicht einmal eine Feierstunde des Rates wurde angesetzt.
Zusammengefasst möchte ich festhalten, dass unsere Gemeinde gut beraten ist, wenn sie die Erinnerung an ihren berühmten Sohn wachhält, und es scheint mir eine naturgegebene Aufgabe unseres Vereins zu sein, hierauf unermüdlich hinzuwirken. Es wäre schön, wenn dies in dauerpräsenter Form wie Straßen-, Parknamen oder Infotafeln geschähe, wenn also die alten Bedenken des Rates von vor 25 Jahren überdacht werden könnten.
Noch reizvoller scheint es mir als Wissenschaftler aber aus historisch-philologischem Blickwinkel, wenn wir in gemeinsamer Anstrengung auch zu neuen Forschungsergebnissen kämen. Zuccalmaglio bietet viele Ansatzpunkte, viel ungesichtetes Material; und die personale Lokalgeschichte steht hier erst an ihrem wissenschaftlichen Anfang. Daraus müsste sich mit der in Nachrodt-Wiblingwerde vorhandenen Kompetenz etwas machen lassen!
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!